Wissenschaftlicher Ideentransfer ist immer von gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen abhängig, die ihn befördern oder behindern können.
Dies wird im vorliegenden Sammelband am Beispiel der phanomenologischen
Bewegung demonstriert. Als phi-losophische Methodik und Grundhaltung zu
Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich durch Edmund Husserl begründet,
steht ihre Rezeption und Weiterentwicklung im Zeichen der menschlichen
Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts. Weltkriege und totalitäre
Regime behinderten die Verbreitung phänomenologischen Gedankenguts,
zerstörten Kommunikationswege und vernichteten Menschenleben.
Einige Denker arrangierten sich mit den totalitären Mächten. Andere emigrierten und verbreiteten
phänomenologisches Gedankengut
in anderen Nationalkulturen. Wieder andere wurden in ihren
Gesellschaften so isoliert, dass Inseln phänomenologischen Denkens
entstanden, die vom freien Diskurs relativ abgeschnitten waren - man
denke nur an Jan Patočka in Prag oder an Roman Ingarden und seinen
Schüler Józef Tischner in Krakau. Für sie und viele andere war das
durch Kriege, Rassismus und Totalitarismus verursachte Leid
Ausgangspunkt ihres Philosophierens. Die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen beeinflussten daher neben dem Austausch auch Methode
und Fragestellungen der Phänomenologie. Paradigmatisch ist hier die
Hinwendung zum Anderen angesichts von Massengesellschaft und Holocaust
im Werk von Emmanuel Lévinas.